Karl Kreiner (1896-1967) – der Lehrer, der auch Dichter war
Warum wird eine Grundschule nach einem toten Heimatdichter benannt?
Natürlich – jedes Jahr zum Martinsfest singen viele hundert Kinder in ganz Neuss das Lied vom „Zink Mätes“. Karl Kreiners vielleicht volkstümlichstes Gedicht verdankt seine Popularität nicht zuletzt der eingängigen Vertonung von Josef Krey.Aber Kreiners gefühl- und humorvolle Gedichte „op Platt“ waren nicht das einzige Argument für die Ratsmitglieder, 1983 die ein wenig technokratische Bezeichnung „Weißenberg-Ost“ durch den Namen Karl-Kreiner-Schule zu ersetzen. Karl Kreiner war nicht allein Dichter. Die Neusser verdanken ihm ein Standardwerk, ohne das zahlreiche Ausdrücke und Redewendungen des „Nüsser Platt“ vermutlich längst vergessen wären. Sein „Neusser Alphabet“ ist für die heimische Mundart, was der Duden fürs Hochdeutsche: „Maßgebend in allen Zweifelsfällen“. Vor allem anderen aber war Karl Kreiner Lehrer: mit Leib und Seele – und mit Herz. 23 Jahre lang übte er seinen Beruf hier in Weißenberg aus.
Als Karl Maria Antonius Kreiner am 11. September 1896 geboren wurde, war seine Familie seit drei Jahrhunderten in Neuss nachweisbar. Karl selbst führte den Familiennamen auf den Neusser Stadtpatron Sankt Quirin (Krein) zurück. Vater Wilhelm war Betriebsleiter der Ölmühle Thywissen, die Familie also wirtschaftlich abgesichert. Mutter Gertrud erkannte früh die künstlerische Neigung ihres Jüngsten und weckte in ihm die Liebe zum Neusser Platt. Für die Zeit der vorletzten Jahrhundertwende ungewöhnlich selbstständig, betrieb Gertrud Kreiner an der Oberstraße ein Geschäft für Herde und Öfen, das auch von Kunden aus dem Neusser Umland stark frequentiert wurde. Mit den Furthern und Holzheimern, Kaarstern und Rosellerheidern sprach die Geschäftsfrau Dialekt. Auf einem stets unter der Theke bereit liegenden Blöckchen notierte sie so manche eigentümliche Redensart und Wendung. Jenes Blöckchen, zu dem sich im Laufe der Jahre noch viele andere gesellten, sollte später der Grundstock eben jenes „Neusser Alphabets“ werden.
Ende 1918 trat Karl Kreiner seinen Dienst an der Weißenberger Knabenschule an – seine schönste Zeit, wie er später oft sagte. Das Lehrerkollegium unter Rektor Schmitz pflegte einen freundschaftlichen Umgang miteinander. Hier, im damals noch ländlichen Weißenberg, war Kreiner gezwungen, Platt zu sprechen. Ein Großteil seiner Schüler verstand schlicht gar kein Hochdeutsch. Als junger Lehrer schrieb er seine ersten Mundartverse. Und eine ernste Gewissensfrage tauchte auf: Durfte ein Lehrer sich öffentlich zur Mundart bekennen? Mit einer großen Kanne Kaffee ausgerüstet bis spät in die Nacht am Schreibtisch sitzend – so hat seine Tochter Walburga ihren Vater in Erinnerung: Hefte korrigieren, Unterricht vorbereiten, Aufsätze oder Vorträge verfassen, Gedichte formulieren. „Wenn mein Vater Zeugnisse schrieb, war er für die Familie nicht ansprechbar, er wollte doch jedem Schüler gerecht werden.“ Jedem Schüler gerecht werden – das war ihm ein großes Anliegen. Dazu gehörte auch, dass sich die Jungen zu der Beurteilung äußern durften. Dem Lehrer, dem Kinder über alles gingen, gelang es, Freude am Lernen zu vermitteln. Mit Methoden, die aktueller sind denn je: Statt den Schülern fertige Erklärungen vorzusetzen, ließ er sie ihre Beobachtungen machen und daraus eigene Schlüsse ziehen. In einer Zeit, in der sich noch mancher Lehrer mit dem Rohrstock Respekt zu verschaffen versuchte, wurde ihm Zuneigung entgegen gebracht.
Den Erstklässlern, die damals noch nach Ostern eingeschult wurden, nahm der talentierte Zeichner oftmals die anfängliche Befangenheit, wenn er aus einem großen O an der Schultafel nach und nach einen Osterhasen entstehen ließ. Und auch im Rechenunterricht verwandelten sich nüchterne Zahlen plötzlich in lustige Tierchen, eine 2 etwa in einen stolzen Schwan. Volksschullehrer zu bleiben, nicht weiter zu studieren, um vielleicht eine besser dotiere Anstellung an einem Gymnasium annehmen zu können, war eine sehr bewusste Entscheidung. An der Volksschule hatte er die Möglichkeit, erzieherisch zu wirken. Wissen zu vermitteln, genügte ihm nicht, er wollte dafür sorgen, dass aus den Kindern etwas wird. Sein Engagement als Lehrer endete darum nicht mit der Schulglocke. Für Kreiner war es selbstverständlich, sonntags früh von seiner Wohnung an der Schorlemerstraße per Straßenbahn zur Neusserfurth zu fahren, um seine Zöglinge in der heiligen Messe in St. Josef zu beaufsichtigen. Und wenn es im Sommer richtig heiß war, kündigte er morgens in der Schule an, nachmittags am Jröne Meerke Aufsicht zu führen, so dass die Eltern ihre Sprösslinge beruhigt zum Schwimmen gehen lassen konnten.
Sein Verantwortungsbewusstsein für die ihm anvertrauten Jungen ging über den Tag der Schulentlassung hinaus. Kreiner nutzte seine vielfältigen Kontakte, sprach bei Neusser Unternehmen vor, um „seinen“ Jungs eine Lehrstelle zu beschaffen. Als nach Ende des Zweiten Weltkrieges im Neusser Stadtteil Gnadental ein ganz neues Viertel entstand, übernahm Kreiner die Leitung der eben errichteten Konrad-Schule. Als Rektor legte er großen Wert auf Harmonie im Lehrerkollegium – wie er es in Weißenberg kennen gelernt hatte. Das Standardwerk zur Neusser Stadtgeschichte schlechthin, „Neuss im Wandel der Zeiten“, mag wohl auch auf eine Initiative Kreiners zurückgehen. Schon früh erarbeitete er ein erstes Konzept für ein Lehrbuch, das für den schulischen Heimatkunde-Unterricht gedacht war. Die Drucklegung des gewaltigen Bandes im Jahr 1969 erlebte Kreiner nicht mehr.
Und dann gehören zum Vermächtnis Kreiners seine Gedichte. Gedichte, die gefühlvoll, nie aber gefühlsduselig sind. Gedichte, die teilweise humorvoll Neusser Geschichte behandeln, wie „Et Led vom Bernadott“ oder „Kaiserwing“. Gedichte, die Stimmungen einfangen, seinen Blick fürs Unscheinbare, Alltägliche zeigen.
Am 22. Dezember 1966, zwei Tage vor dem Heiligen Abend, war Karl Kreiner gerade auf dem Rückweg von der Weihnachtsbeichte in St. Kamillus. Er wollte nur noch einen Umschlag mit den letzten Seiten seines „Neusser Alphabets“ zur Post bringen, hatte inzwischen die Breite Straße erreicht, als ihn im Dunkel auf regennassem Asphalt ein Auto erfasste. Sechs Wochen später, am 29. Januar 1967 – dem Morgen des „Nüsser Ovends“ – starb Karl Kreiner an den Folgen der erlittenen Verletzungen.
Die Vereinigung der Heimatfreunde Neuss ließ ans Haus Oberstraße Nr. 105 eine Gedenktafel installieren: „Hier lebte und arbeitete der Mundartdichter Karl Kreiner. Er lehrte seine Mitmenschen, die Heimat mit dem Herzen zu sehen.“
(Susanne Niemöhlmann)